16

 

Als ich wieder ansatzweise mitbekam, was um mich herum vorging, lag ich angeschnallt auf einer Rollbahre. Wetten, man würde mich ins Krankenhaus von Doraville bringen?

»Doraville bringt mir kein Glück«, sagte ich oder dachte es zumindest. Wahrscheinlich murmelte ich bloß irgendetwas Unverständliches, denn die Sanitäterin an meinem Kopfende, eine gedrungene Frau mit einem aggressiven Kinn, sagte: »Alles wird gut, Schätzchen, keine Sorge.«

»Mr Hamilton?«

»Nett, dass Sie nach ihm fragen. Wir haben die Blutung gestillt. Ich glaube, er kommt auch wieder auf die Beine.«

»Barney?«

»Er ist nicht tot, aber wahrscheinlich wäre er es gern.«

»Wo ist mein - wo ist Tolliver?« Ich musste mir endlich abgewöhnen, ihn als meinen Bruder zu bezeichnen.

»So ein Großer, Dunkelhaariger, Dünner?«

»Mhm.«

»Der wartet darauf, dass wir Sie hier rausrollen.«

Ich strahlte.

»Wie süß, sie freut sich, ihn zu sehen«, sagte die junge Frau. Ihr Kollege, ein Mann um die fünfzig, meinte : »Komm Grace, bringen wir sie hier raus.« Sie zog einen Schmollmund, während sie mich die Verandastufen hinuntertrugen.

Tolliver kam herbeigeeilt, er war völlig aufgelöst. »Er hat dich aus unserem Auto entführt«, sagte er, als wisse ich das nicht selbst am besten. »Als ich da rauskam und du verschwunden warst, konnte ich es einfach nicht fassen!«

»Sie können noch die ganze Nacht weiterreden, wenn Sie wollen. Aber jetzt lassen Sie uns das Mädel erst mal ins Krankenhaus bringen«, sagte der ältere Mann.

Die Fahrt dorthin dauerte eine Weile, und die junge Frau setzte sich hinten zu mir und schwallte mich voll. Sie nahm meinen Puls, maß meine Temperatur und tat alles Mögliche, auch meine genähte Kopfwunde sah sie sich an. Ihrer Mimik nach zu urteilen, sah sie nicht sehr gut aus.

»Soweit ich weiß, hatten Sie vor ein paar Tagen eine angebrochene Ulna?«, fragte sie. »Ich fürchte, die ist jetzt ganz gebrochen, aber wir werden eine Röntgenaufnahme machen, um sicherzugehen.«

»Gut«, sagte ich. Wir würden unsere Ersparnisse anbrechen müssen, um meine Arztrechnungen in Doraville zu bezahlen. Jetzt würde es noch länger dauern, bis wir uns ein Haus kaufen konnten. Aber das war im Moment meine geringste Sorge. Nach den letzten drei Stunden war es schon ein herrliches Gefühl, in diesem Krankenwagen zu liegen.

Ich fühlte mich dermaßen sicher, dass ich sogar einschlief und mühsam die Augen wieder öffnete, als wir im Krankenhaus waren.

Das Ganze kam mir vor wie ein Déjà-vu-Erlebnis. Ich lag nicht in meinem alten Zimmer - in dem war, glaube ich, Ted Hamilton. Ich lag eher am Ende des Flurs und auf der gegenüberliegenden Seite.

Mit Sandra Rockwells Besuch hatte ich am allerwenigsten gerechnet. Nachdem wir uns ausgiebig nach unserem jeweiligen Befinden erkundigt hatten, sagte Sie: »Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen.«

Ich wartete.

»Ich wusste, dass derjenige, der Sie angegriffen hat, der Mörder sein musste. Doch er war einfach nicht aufzuspüren, und auch nicht sein Auto. Tom Almand hat behauptet, er habe gegenüber von ›Hair Affair‹ geparkt und sei über den hinteren Parkplatz gegangen. Dann hätte er sich hinter dem Mülleimer des Motels versteckt. Er habe Ihre Reifen aufstechen wollen, aber dann seien Sie herausgekommen, und er habe für alle Fälle die Schaufel dabeigehabt.«

Ich versuchte mich daran zu erinnern, wo sich ›Hair Affair‹ befand - etwa zwei Häuser vom Motel entfernt. Aber das spielte jetzt alles keine Rolle mehr.

»Wie geht es ihm?«, fragte ich.

»Tom?« Sie klang überrascht. »Er redet sich um Kopf und Kragen, aber seinen Sohn erwähnt er mit keinem Wort.«

»Vielleicht tut das Barney«, sagte ich. Wieder kam es mir vor, als ginge mich das alles gar nichts mehr an. Chuck Almand war tot, und kein Geständnis und keine Erklärung würden ihn wieder lebendig machen.

In diesem Moment kam Tolliver herein. Er war in der Cafeteria gewesen, um Kaffee zu trinken und zu frühstücken. Er hatte mir Kaffee mitgebracht, und obwohl ich nicht wusste, ob ich welchen trinken durfte oder nicht, würde ich ihn zu mir nehmen. Er beugte sich vor, um mich zu küssen, und es war mir egal, was Sandra Rockwell davon hielt.

Dann kamen Klavin und Stuart herein. Sie wirkten beide erschöpft, aber sie lächelten.

»Die beiden sind gestört genug, um noch Generationen von Serienkiller-Autoren zu beschäftigen«, sagte Klavin. »Aber solange sie hinter Gittern sind, soll mir das recht sein.«

»Serienmörder lieben es, in Romanen verewigt zu werden«, sagte Stuart. Er strich sich über sein glattes Haar. »Aber Hauptsache, die beiden packen aus, und wir schließen die letzten Lücken.«

Tolliver nahm meine Hand.

Ich seufzte.

Die beiden SBI-Agenten wollten natürlich wissen, was am Nachmittag genau vorgefallen war, und ich war wirklich nicht in der Verfassung, darüber zu reden. Aber ich hatte während meines Aufenthalts in Doraville vieles gegen meinen Willen tun müssen, und das schien auch dazuzugehören.

»Hatten Sie ihn in Verdacht?«, fragte Stuart.

»Ja«, sagte ich, was bei allen Überraschung auslöste ... allen bis auf Tolliver. »Denn als ich im Wagen saß, fiel mir die Grube unter der Scheune ein und wie merkwürdig es war, dass Barney von dieser Grube wusste. Er hatte eine entsprechende Bemerkung gemacht, als ich Manfred im Krankenhaus besuchte. Ich hätte vielleicht gar nicht mehr daran gedacht, wenn mich Doak Garland nicht danach gefragt hätte. Doak hatte offensichtlich keine Ahnung davon, dass sich eine Grube unter dem Stall befand. Es war also nicht allgemein bekannt. Und trotzdem wusste Barney davon. Und dann fiel mir ein, wie viele der Jungen im Krankenhaus gelegen hatten. Ein guter Ort für Barney, um sie auszuwählen. Er hat mir gegenüber auch so etwas erwähnt.«

Genau das wollten sie hören, weshalb ich mich auch zu erinnern versuchte, was Barney mir über ihre Vorgehensweise erzählt hatte, darüber, wie er die Grube und den Grund für ihre Aushebung erklärt hatte, obwohl das alte Haus außerhalb der Stadt doch viel abgelegener war.

»Sie haben sich also abgewechselt«, sagte Stuart. »Denn man kann nicht zwei Autos hinter dem alten Haus abstellen. Aber an den Wochenenden sind sie manchmal gemeinsam hingefahren. Für einen flotten Dreier sozusagen.«

Mir wurde schlecht und ich stellte meinen Kaffee ab. Tolliver tätschelte mich.

»Manchmal hielten die Jungen vier, fünf Tage durch, wenn sie etwas zu essen und zu trinken bekamen«, sagte Klavin.

»Gut, es reicht«, meinte Tolliver aufgebracht. »Wir wissen bereits mehr, als wir wissen wollen.«

»Wir werden ihn jedenfalls des versuchten Mordes an Ihnen und Ted Hamilton anklagen«, sagte Klavin, nachdem er die Zurechtweisung verdaut hatte. »Das und die Morde dürften reichen, um ihn für immer wegsperren zu können. Wenn auch nur der Hauch einer Möglichkeit besteht, dass man ihn irgendwann wieder freilässt, klagen wir ihn noch wegen anderer Dinge an. Aber man kann ihm schließlich nur soundso oft lebenslänglich geben.«

»Einige Spuren werden hoffentlich beide festnageln. Es gibt also nicht nur ihre Geständnisse.«

»Man hat jede Menge gefunden, es gibt zum Beispiel bereits übereinstimmende Haarproben. Und ich bin mir sicher, dass wir auch entsprechende DNA-Spuren finden werden.«

Ich nickte. Auch wenn diese Männer bis zum Prozess nur noch an den Fall denken würden - für mich war er abgeschlossen.

»Übrigens, wie geht es Ihnen überhaupt?«, fragte Sheriff Rockwell, womit sie nur darauf aufmerksam machen wollte, dass sich Klavin und Stuart gar nicht danach erkundigt hatten. Die beiden wirkten nicht übermäßig peinlich berührt.

Tolliver sagte: »Ihr Arm ist jetzt richtig gebrochen. Ihre Kopfwunde musste erneut genäht werden, die Naht ist jetzt größer. Die Kopfwunde hat sich entzündet. Sie hat mehrere schwere Prellungen und zwei lockere Zähne. Das blaue Auge sehen Sie selbst. Und jetzt hat sie auch noch eine Infektion der oberen Atemwege.«

Und einen eingerissenen Fingernagel, aber den hatte er weggelassen. Tolliver sah sie dermaßen böse an, dass ich erwartete, sie würden gleich weinend zusammenbrechen. Aber sie scharrten nur verlegen mit den Füßen, bis ihnen eine gute Ausrede einfiel, um uns zu verlassen. Es klang nicht so, als würde ich in nächster Zeit nach Doraville zurückkehren müssen. Und das war mir nur recht.

Manfred rief an, aber ich sprach nicht mit ihm. Das erledigte Tolliver. Ich war zu erschöpft und auch emotional viel zu sehr angeschlagen.

Der einzige Besuch, über den ich mich freute, war Twyla Cotton. Mittlerweile schien sie sich noch schwerfälliger zu bewegen. Sie machte ein dermaßen ernstes Gesicht, als sei ihr das Lachen für immer vergangen.

»Tja«, sagte sie. Sie stand direkt neben meinem Bett, vermochte es aber nicht, mir in die Augen zu sehen. »Sie wurden gefasst, und mein Enkel wird nie wieder lebendig.«

Ich nickte.

»Ich hatte recht, Sie herzuholen, und ich bin froh, dass ich es getan habe. Sie mussten mit dem, was sie taten, aufhören, auch wenn es für Jeff zu spät war.«

Für Jeff war es schon seit Monaten zu spät.

»Sie werden in der Hölle schmoren«, sagte Twyla absolut überzeugt. »Und ich weiß, dass Jeff im Himmel ist. Aber für die Hinterbliebenen ist es schwer.« »Ja«, sagte ich, denn damit kannte ich mich aus.

»Sie denken dabei an Ihre vermisste Schwester?«

»Ja, an Cameron.«

»Das ist die Ironie des Schicksals, was?«

»Dass ich jeden finde, nur sie nicht? Ja, so kann man es auch ausdrücken.«

»Dann werde ich dafür beten, dass Sie Ihre Schwester finden.«

Als ich in Twylas leidgeprüftes Gesicht sah, fragte ich mich zum ersten Mal, ob ich Cameron wirklich finden wollte. Ob mir das wirklich Frieden schenken würde. Mein Blick wanderte zu Tolliver herüber. Er sah Twyla böse an. Er glaubte, sie würde mich unglücklich machen, und noch mehr Unglück wollte er mir nicht zumuten.

»Danke, Twyla«, sagte ich. »Ich hoffe ... ich hoffe, Ihr anderer Enkel wird Ihnen noch viel Freude bereiten.«

Sie schaffte es beinahe zu lächeln. »Bestimmt. Für Jeff gibt es keinen Ersatz, aber Carson ist ein lieber, zuverlässiger Junge.«

Wenig später ging sie, denn es gab dem nichts mehr hinzuzufügen.

Tolliver meinte: »Wenn du kein Fieber bekommst, fahren wir morgen.«

»Auf jeden Fall«, sagte ich. »In Philadelphia geht es mir vielleicht schon wieder so gut, dass ich unsere Kunden nicht völlig vergraule.«

»Wir können auch absagen, zurück in unsere Wohnung fahren und uns dort ein paar Wochen erholen.«

»Nein«, sagte ich. »Wenn man vom Pferd fällt, muss man gleich wieder aufsteigen.« Und dann schaffte ich es fast, ein Lächeln zustande zu bringen. »Und wenn es mir noch etwas besser geht, schauen wir, wie das mit dem wirklichen Aufsteigen klappt.« Ich versuchte, anzüglich zu grinsen, aber das Ergebnis war derart armselig, dass sich Tolliver zusammenreißen musste, um nicht laut loszulachen.

Aber dann versetzte ich ihm einen Stoß zwischen die Rippen, und er lachte doch noch.

Ich war aufgestiegen und saß wieder fest im Sattel.

 

 

Ende

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